Bharatanatyam

„Dieser Tanz ist die höchste Form des Yoga.“

Mythili Prakash
Bharatanatyam Akhila

Bharatanatyam ist ein Tempeltanz aus dem südindischen Staat Tamil Nadu. Seine Wurzeln reichen zweitausend Jahre in die indische Kultur zurück. Es ist ein dynamischer und kraftvoller Tanz, der sich auszeichnet durch klare Linien und Endpunkte in den Tanzfiguren, rhythmische Fußarbeit sowie durch Sprünge, Kicks und Drehungen. Er wird von Männern und Frauen getanzt. Der Begriff „Natya“ steht für Tanz, Drama und Musik, der Begriff „Bharata“ ist ein Synonym für das Land Indien. Daher kann Bharatanatyam mit „der Tanz Indiens“ übersetzt werden. Einst wurde Bharatanatyam von den Devadasis in den Tempeln getanzt, die auf diese Weise die indischen Götter verehrten und die Menschen in den Mythen unterrichteten. Die Devadasis waren hoch angesehene Tempeltänzerinnen, die zudem im Sanskrit und in weiteren Sprachen kundig waren, um die Kompositionen zu interpretieren, zu denen sie tanzten.

Bereits im Natya Shastra, einer alten Schrift über die darstellenden Künste, die als fünftes Buch der Veden betrachtet wird, gibt es exakte Vorgaben zum Tanz, Kostüm, Schmuck, zur Haartracht und Maske. Die Ausbildung zum/zur klassischen indischen Tänzer/in bedarf eines konzentrierten Studiums und kontinuierlichen Trainings. Ein Lehrer muss deshalb nicht nur in der Tanztechnik versiert sein, sondern darüber hinaus in der südindischen karnatischen Musik, insbesondere der Rhythmik, die er dem Tänzer mit dem Nattuvangam, den Zimbeln, vorgibt, in der Poesie und Sprache der Stücke sowie der hinduistischen Mythologie.

Gott Shiva in der Darstellung als Nataraja wird als Gottheit des Tanzes verehrt. Er ist das höchste Symbol kosmischer Energie und steht für Schöpfung, Erhalt und Zerstörung. Die Heimat des Nataraja ist im Chidambaram Tempel in Tamil Nadu, wo er im innersten Heiligtum der Anlage steht. Klassischer Tanz in Indien wird als reinster und schönster Ausdruck des menschlichen Geistes angesehen.

Als Bharatanatyam als Kunstform Einzug an die königliche Höfe hielt, verloren die Devadasis ihre gesellschaftliche Stellung. Gleichwohl wurden sie als Künstlerinnen nachwievor sehr geschätzt und von den Maharajas gefördert. In der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts erfuhr die Tanztradition durch das berühmte Tanjore Quartett, bestehend aus vier talentierten Brüdern, erstmalig eine Systematisierung. Jedoch geriet der einst geachtete Tanz unter britischer Herrschaft zunehmend in Verruf und wurde schließlich verboten.

Indische Götterstatuen
Nataraja

Anfang des 20. Jahrhunderts machten sich die legendäre Künstlerin Rukmini Devi Arundale und der Rechtsanwalt und Tänzer Shri E. Krishna Iyer um die Wiederbelebung und Bewahrung des Tempeltanzes verdient und Bharatanatyam erlebte eine Renaissance als Bühnenkunst. Rukmini Devi ist die Gründung der weltberühmten Kalakshetra Foundation in Chennai in Tamil Nadu zu verdanken, der Ausbildungsinstitution für Bharatanatyam in Indien. Sie sorgte nachhaltig für die Strukturierung und Kategorisierung des Tanzes und damit für große Klarheit, um das wertvolle Wissen in die Zukunft zu tragen. Der heutige Tanzstil in Kalakshetra geht ursprünglich auf den Pandallanur-Stil zurück, der neben dem Vazhavur- und Tanjavur-Stil zu den drei Hauptrichtungen zählt. Bharatanatyam in Indien hat jedoch vielfältigste Ausprägungen und die Kunstwelt verzeichnet faszinierende Tänzerinnen und Tänzer unterschiedlicher Stile.

In den Choreografien unterscheidet man drei Typen: Nritta ist reiner Tanz, Nritya ist Ausdruck kombiniert mit Tanzschritten und Natya ist reiner Ausdruck, reines Tanztheater. Ein vollständiges Repertoire, das ein Schüler nach Einüben der Adavus (Tanzfiguren), erlernt, besteht aus einem Eröffnungsstück, einem Blumenopfer, gefolgt von Alarippu, in dem die Tänzerin oder der Tänzer einer sich entfaltenden Blume gleich die Grundtechniken in drei Geschwindigkeiten vorstellt. Als drittes kommt das Jatiswaram, ein Pure-Dance-Stück. Im Anschluss wird das Shabdam getanzt, das erste Stück im Repertoire bestehend aus Tanz und Abhinaya, dem Ausdruck von hauptsächlich Augen und Gesicht, über den gemeinsam mit den Mudras, den Handgesten, eine Geschichte aus der indischen Mythologie erzählt wird.

Der Höhepunkt ist das Varnam, das heute in der Regel zwischen 20 und 30 Minuten dauert. Danach folgen Keerthanam, ein Nritya-Stück, sowie Padam, ein reines Abhinaya-Stück. Gekrönt ist das Repertoire zum Schluss von einem Thillana, ein dynamisches Pure-Dance-Item. Getanzt wird zu Kompositionen aus der karnatischen Musik, die auf unterschiedlichen Melodiemodi, den Ragas, und Rhythmusmustern, den Talas, basiert. Ein zentraler Vers, der Natyakrama Sloka aus dem Abhinaya Darpana, einer Abhandlung über den indischen Tanz, die auf das 4. Jahrhundert datiert wird, heißt in Lautschrift: „Yatho Hastha Thado Drishti. Yatho Drishti Thado Manaha. Yatho Manaha Thado Bhava. Yatho Bhava Thado Rasaha.“ Er bedeutet: Wo die Hand hingeht, sollen die Augen folgen. Wo die Augen hingehen, dorthin folgt der Geist. Wo der Geist ist, ist der Ausdruck (Bhava). Wo Ausdruck ist, wird Gefühl entstehen. Rasa ist das Gefühl, das im Zuschauer durch den Ausdruck des Tänzers hervorgerufen wird. Das ist die Aufgabe des Abhinaya.

Lakshmi